Anstelle eines Jahresrückblicks…

Alles in mir wehrt sich dagegen, einen „Jahresrückblick“ zu schreiben.
Ich habe das eh noch nie getan, ich schaue lieber nach vorne. Und wenn ich es tue, scheint sich das Jahr auf die wenigen schlimmen Stunden zu komprimieren, die wir vor deinem Tod miteinander verbracht haben.

Lieber denke ich daran, was Du mich alles gelehrt hast. Denn auch wenn wir meinen, dass wir ein Pferd „ausbilden“, ist es doch das Pferd, das uns ständig Aufgaben stellt, und wenn wir sie zur Zufriedenheit erfüllt haben, wird die Aufgabenstellung verändert und neue Anforderungen tauchen auf.
23 Jahre warst du an meiner Seite. Du warst ein großartiger Lehrer.

Als Du als Zweijähriger zu mir kamst, hast du mich als erstes gelehrt, dass Zäune relativ sind. Sie sind relativ zum aktuellen „Außen“ und zum aktuellen „Innen“. Wenn das „Innen“ nicht stimmte, war ein Zaun nicht relevant für Dich und Du hast ihn abgebaut, bist hindurchgelaufen oder darübergesprungen.
Du hast mir gezeigt, wie ich für Dich einstehen kann, damit Du bei mir Sicherheit finden konntest, als die gesamte Herde Dich verfolgt hat. Ich habe gelernt, stark zu SEIN, nicht nur zu scheinen, damit meine Präsenz als Schutz für Dich ausreichend sein kann.

Du hast mich gelehrt, zu sehen, wie sensibel Du bist, auch wenn Du bisweilen einen „panzerhaften“ Eindruck machtest. Auch wenn mir niemand geglaubt hat, bin ich mir sehr sicher, dass unsere ständige Diskussion – und vor allem meine strafbasierte Vorgehensweise – um „Gras oder nicht Gras“ dazu geführt hast, dass Du vor lauter Stress Magenprobleme bekamst und als Folge davon zu koppen begonnen hast.
Es tut mir bis heute noch unendlich leid, dass ich zu diesem Zeitpunkt mehr auf andere gehört habe und Dir so viel Druck gemacht habe. Aber das war wohl nötig, damit ich meinen Umgang mit Dir von Grund auf erneuern konnte und beginnen konnte, druckfrei zu arbeiten und wahrzunehmen, wann Du Stress hast. Dieses Thema hat uns bis zuletzt begleitet, und endlich habe ich auch die kleinen Zeichen wahrnehmen gelernt, die den Stress anzeigen.

Du hast mich gelehrt, wie ich meinen Sitz komplett spannungsfrei bekommen konnte, weil Du mir sonst unter dem Hintern davongerannt bist. Ich wollte Dich nicht mit Zügelzug eingrenzen, also musste ich wirklich lernen, einen einfühlsamen, lockeren und begleitenden Sitz zu entwickeln. Das hat fast ein Jahr, angefüllt mit Sitzlongen, gedauert, in dem ich gelernt habe, weiterzuatmen und wirklich nur einen kleinen Teil meines Körpers einzusetzen, ohne alles andere anzuspannen.
In einem weiteren Jahr habe ich den einfühlsamen Gebrauch meiner Hände am Zügel gelernt, um eine feine Verbindung zu ermöglichen, als wir das Thema Springen in Angriff nahmen. Und Du hast mich gelehrt, dass wir zusammen so viel mehr an Hindernissen überwinden können, wenn wir es gemeinsam angehen. Und doch war das, was an wirklicher Feinheit möglich sein kann, zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne.

Du hast mich gelehrt, wahrzunehmen, was schlechte Balance auslösen kann, und zu verstehen, warum es körperlich so schwer sein kann, „einfach“ etwas zu tun, was doch allen anderen scheinbar so leicht fällt. Dank Dir habe ich so viel verstanden – wie sich gute Balance anfühlen kann und wie man sie erreichen kann. Und dass es so viel Loslassen bedeutet, Loslassen von Glaubenssätzen, von Lehrmeinungen, Loslassen von Menschen, die uns nicht gut taten. Loslassen bis hin zum letzten großen Schritt.

Du hast mich gelehrt, dass Unterwegs sein schön ist, wenn man nicht alleine ist. Und das es nichts Schlimmeres gibt, als Alleine zu sein. Und dass man Pläne und Vorhaben einfach ändern kann, weil das Festhalten daran nichts bringt.
Als Du verloren gegangen bist, hast Du mir gezeigt, dass Du immer zu mir zurückkommen wirst, auch wenn ich Dir nicht die Sicherheit einer Herde geben konnte.
Du hast mir gezeigt, wie es ist, den Moment zu genießen, als wir gemeinsam den Sonnenaufgang bewundert haben. Ein Moment tiefster innerer Verbundenheit, wie ich ihn nicht oft erleben durfte. Und der mir gezeigt hat, dass eine Verbindung zwischen Mensch und Pferd so viel mehr sein kann als „Last“ und „Tragtier“.
Nur wenige Male haben wir diese tiefe Verbundenheit im „Sein“ erfahren dürfen, weil wir uns zu oft auf das Tun fokussiert haben. Aber alle diese Momente sind da und ich kann direkt zu ihnen zurückkehren, wenn ich will.

Du hast mich gelehrt, wirklich das zu tun, was ich will. Nicht etwas zu tun, was man meint, das andere schön finden würden. Und dann hast Du mich gelehrt, mein Wollen zurückzustellen, um ein gemeinsames Tun zu entdecken. Ein Tun, was ein echtes Frage- und Antwortspiel ist, und wo das Spielen im Vordergrund steht als lustvolles Ausprobieren und Genießen des Moments.

Als wir das geschafft hatten, war meine Ausbildungszeit bei Dir beendet und Du konntest gehen – um mir den nächsten, kritischen und außerordentlich anspruchsvollen Lehrer zu schicken, der nun die weitere Ausbildung übernimmt.

Vielen Dank für Alles. Worte sind nie genug, um alles auszudrücken.

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