Zur Ruhe finden

Als Amadeus zu mir kam, wurde er als „sehr motiviert“ beschrieben, und so zeigte er sich auch in den ersten Monaten. Immer bereit, etwas zu tun, immer bereit, sich etwas Futter zu verdienen, und kaum war die Arbeitseinheit beendet, und er hatte ein paar Minuten Pause gehabt, versuchte er sich schon wieder vorzudrängeln, wenn ich mit einem anderen Pferd arbeiten wollte.

Nach und nach wurden bei ihm dabei viele verschiedene Stress-Ebenen sichtbar. Es gab Stress durch mangelnde Balance, der vor allem in Bewegungssituationen auftrat. Der Prozess des gegenseitigen Verstehens bot immer wieder Potential für Verwirrung und Unverständnis auf beiden Seiten. Es gab Stress durch bestimmte Gesten, die möglicherweise aus einer Ausbildungssituation, in der mit negativer Verstärkung gearbeitet wurde, resultierten. Und es gab Stress durch die Anwesenheit von Futter. Zum Winter hin kam noch das Problem mit der Kälte dazu, so dass ich mich entschied, dass er bei schlechter Witterung eine Decke trägt, was zu einer deutlichen Entspannung führte.

Wenn man ein Pferd neu kennenlernt, ist es quasi unmöglich, „alles gut“ zu machen von Anfang an. Man muss sich ja nach und nach erst kennenlernen, man muss durch die gegenseitigen Erwartungen hindurchfinden zu dem, was man tatsächlich vor sich hat – das gilt für Mensch und Pferd gleichermaßen. Denn das Pferd hat ja aus seinem vorherigen Leben Erfahrungen mit Menschen gemacht und dementsprechend auch Erwartungen daran, wie die Zusammenarbeit und das Zusammenleben (wenn man den kurzen Zeitraum, den man mit den Pferden in ihrem Umfeld verbringt, so nennen mag) mit den Menschen aussehen kann. Wenn sich nun der „neue“ Mensch ganz anders verhält, muss das Pferd nicht nur lernen, diesen Menschen und seine Ansinnen zu verstehen, sondern auch damit klarkommen, ob dieses Programm auch zu ihm passt.

In den vergangenen Monaten hatten wir vor allem daran gearbeitet, eine körperliche Verbesserung zu erzielen. Zum Ende des Jahres hatte sich die körperliche Balance auch deutlich verbessert – dennoch rutschten wir beide quasi in eine Winterdepression hinein. Ich will jetzt keine genaue Definition einer Depression herbeiziehen, aber wenn man unser beider Laune mit einem Wort beschreiben wollte, trifft es das eben am besten.

Wir brauchten eine kleine Pause von einander und unseren Erwartungen. Und das war auch das Stichwort: Amadeus hatte noch nicht gelernt, Pausen zu machen. Ich, nebenbei gesagt, bin da auch noch nicht gut darin. Für uns beide also ein großes Lernfeld, für das nun die Zeit gekommen war, um vorsichtige Schritte zu wagen.


Es wurde schnell deutlich, dass die Anwesenheit von Futter einen sehr großen Stresspunkt darstellt. Nun ist für mich die Arbeit ohne Futter keine Option, da sie einen sehr wirksamen Verstärker in der Arbeit mit Pferden darstellt. Wenn ich mit dem Pferd effektive „Ja, genau das ist es“ – Antworten herausarbeiten möchte, gibt es meiner Meinung nach nur sehr wenig, was besser geeignet ist, um eine förderliche Zusammenarbeit zu erzeugen. Sofern das Pferd eben nicht im Dauerhunger ist oder noch nicht gelernt hat, dass es wirklich immer etwas bekommt und der Vertrag gilt:

Du gibtst mir etwas, das ich schön finde, und deshalb bekommst du etwas, das Dir gefällt und wovon Du mehr haben möchtest. Und dann gibst Du mir mehr von dem, was mir gefällt, weil Du magst, dass mir gefällt, was Dir gefällt.

Es war nun Zeit, zu erklären, dass „Ruhe“ etwas Erstrebenswertes sein kann. Diesen Prozess mit Futter zu begleiten, ist wiederum eine Gratwanderung, solange das Futter selbst noch für Aufregung sorgt. Es ist deshalb wie ein Austarieren einer Waage – wie kann ich Futter einsetzen, um zu kommunizieren, dass ich Entspannung möchte, ohne dass es wieder zu vermehrter Aufregung führt. Das Gewicht der Entspannung in der Waagschale muss nach und nach schwerer wiegen als das Gewicht der Futterbelohnung. Wenn wir nun bei dem Bild der Waage bleiben, würde das bedeuten, dass ich mit Click und Futter jedesmal das Futter in die Waagschale fallen lassen würde, worauf hin sie durch den Impuls weiter nach unten ausschlägt, und die „Ruhe-Waagschale“ nach oben hüpft. So braucht es wieder eine kleine Weile, bis die Waage sich auspendelt, und man fortfahren kann. Aus diesem Grund habe ich in der Ruhe-Einheit den Click völlig weggelassen, so dass ich das Futter eher nebenbei und sanft geben konnte und der „Plumps-Effekt“ reduziert wurde. Für das Verhalten „Ruhe“ ist es zudem sinnvoller, im Bereich der klassischen Konditionierung zu arbeiten, bei dem ich unbedingte Reflexbahnen anspreche, als durch die Verwendung des Markersignal in den Bereich der operanten Konditionierung zu wechseln, in dem das Tier wieder zu vermehrter Aktivität aufgefordert wird.

Nach dieser Einheit hatte Amadeus wieder zwei Tage Pause, in denen er aber auch nicht anfragte, ob wir etwas tun würden. Ich wollte ihm und mir auch bewusst Zeit geben, diese Einheit zu verarbeiten. In den nächsten Tagen arbeitete ich zweimal mit ihm. Anfangs war er etwas hektisch, ließ sich aber dann durch die bereits bekannten Elemente (Kopf tief füttern, Stehen, Kraulen) schon gut in die Ruhe bringen. Bereits in der ersten Einheit forderte er das Kopfsenken quasi ein und wollte lieber noch mehr Kopfsenken auf der Matte machen, als weiterzugehen. Noch vor kurzem war es schwierig gewesen, ihn überhaupt zum Verweilen zu bekommen, weil er immer bereit war weiter zu gehen. Weiter! Weiter! Weiter!

In der dritten Einheit nach der Entspannungsübung fand er dann tatsächlich zu einer zumindest äußerlich sichtbaren ‚echten‘ Entspannung. Der Kopf kam nicht mehr ständig hoch, die Ohren blieben auf „freundlich“, und er konnte ganz im Einklang mit mir anhalten und auch wieder losgehen. Gefühlt bewege ich mich mittlerweile nur halb so schnell wie vorher, wo wir uns ständig gegenseitig angetrieben haben, auf der Flucht vor der Pause, die vorher nicht zufriedenstellend gefüllt werden konnte.

Und wir kamen in einen richtigen, wunderbaren Flow, wie ich ihn mit Amadeus glaube ich noch gar nicht erlebt habe. Zu Anfang habe ich ja viele Ideen gehabt, was ich gerne alles mit ihm machen würde. Horseagility und Horsedancing (analog zu Dog dancing) war so eine Idee, einfach, weil er ständig in Bewegung war. Aber nun merke ich, dass wir erst einmal ganz auf den Grund der Ruhe gehen müssen, bevor wir irgendetwas machen können. So lerne ich immer mehr, jeden Tag, das nicht wichtig ist, was nach außen hin „Sinn macht“, sondern nur das, was sich für uns richtig anfühlt.

Versuche, möglichst viele Schritte zwischen Dich und Dein Ziel zu bringen. (A. Kurland)

Als ich diesen Satz das erste Mal hörte, war meine spontane Reaktion innerlich „Schön und gut, aber dann erreiche ich mein Ziel ja nie.“

Und ja, das ist für viele Ziele auch gar nicht wichtig. Den Weg gut und gemeinsam zu gehen und Freude darin zu haben, ist das Wichtigere daran.
Und auf einmal steht man auf dem Gipfel, genießt die Aussicht, und der Weg fühlte sich nicht schwer an, auch wenn er vielleicht Jahre gebraucht hat.

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