Es steht in vielen Büchern, und noch viel mehr „Fachleute“ erzählen es einem. Ständig.
So zum Beispiel hier:
Vielleicht kennen Sie ein Pferd, das mit der Vorhand in Sie hineindrängelt. Drängeln bedeutet, dass das Pferd Ihren Raum beansprucht und sich selbst als ranghöher betrachtet. (1)
Verhaltensforscher wiederum belegen schon länger, dass es zwischen Lebewesen verschiedener Arten keine Rangordnung gibt. Wir konkurrieren nicht mit Pferden um Futter oder Sexualpartner.
Wer mit positiver Verstärkung arbeitet, kann die Erfahrung machen, dass es möglich ist, mit Pferden auf partnerschaftlicher Ebene eine lebendige Kommunikation aufzubauen, die ein gegenseitiges Geben und Nehmen, einen ständigen echten Dialog und eine gegenseitige Wertschätzung beinhalten.
Und trotzdem kommt es vor, dass ein Pferd beim parallelen Gehen in mich hineindrängt und dabei sogar die Ohren anlegt. Dann ist es aber doch respektlos?
Was wäre, wenn es dem Pferd in diesem Moment genauso unangenehm wäre wie uns? Wenn es sich nicht dabei wohl fühlt, uns so nahe zu kommen? Wenn das „drängeln“ eine tatsächliche Ursache hätte?
Was, wenn es ganz einfacher Balanceverlust wäre? Wie berechtigt wäre es dann, das Pferd dafür zu strafen?
Vor kurzem habe ich eine Übungssituation filmen können, die sehr deutlich zeigt, wo das Pferd aus der Balance kommt und was dann passiert.
Wodurch kommt nun diese Unbalance zustande?
Die Ursache liegt in der natürlichen Schiefe des Pferdes. Wie man im Film jedoch sieht, ist hier vorwiegend die Instabilität der Vorhand die Ursache für das „Hereinfallen“. Ist das Pferd in seiner vorderen Rumpfträgermuskulatur schwach (einseitig oder beidseitig), passiert es häufiger, dass es über das jeweilig am Boden stehende Vorderbein hereinkippt.
Ist es dann kraftmäßig nicht in der Lage, den kippenden Rumpf wieder aufzurichten, bleibt es in der Unbalance quasi hängen und drängt immer mehr herein, unfähig, die Kreislinie zu vergrößern.
Bei Amadeus ist es die linke Seite, auf der er geschickter und stabiler ist. Hier kann er sich, nach kleinen Wacklern beim Losgehen, besser wieder in die Ausrichtung „gerade voraus“ stabilisieren. Die Matten als hochbestärkte Zielpunkte helfen ihm hierbei.
Auf der rechten Seite fällt es ihm noch schwer. Deshalb drückt sein Gesamtausdruck (angelegte Ohren) hier auch viel deutlicher seinen Unmut über die Situation aus. Sobald der irritierende Faktor (ich) weiter weg ist, kann er sehr viel besser von Matte zu Matte gehen und auch gerader losgehen.
Da er sehr fein auf die Körpersprache des Menschen reagiert und die Nähe zum Menschen durch vorhergehende Erfahrungen für ihn sehr verlockend ist, erscheint er in einem starken Zwiespalt. Näher am Menschen verliert er schneller die Balance, und das versetzt ihn augenscheinlich in Stress.
Das Ohrenanlegen in dieser Situation hat also meiner Meinung nach nichts mit „ich beanspruche Deinen Platz, geh weg“ zu tun, sondern ausschließlich mit dem in diesem Moment eintretenden Balanceverlust, der sich nicht gut anfühlt.
Das Ziel bei der Arbeit mit dem Gehen von Matte zu Matte ist also für uns erst einmal, die starke Bindung an die Körpersprache etwas aufzuweichen. Normalerweise ist das ja ein hoch erstrebenswerter Zustand, ein so fein reagierendes Pferd zu haben, um mit ihm über die eigene Körpersprache kommunizieren zu können. In diesem Fall müssen wir aber erst mal an der Verbesserung der Balance des Pferdes arbeiten. Dies geschieht am besten in Übungen, die etwas auf Abstand passieren, um ihn nicht noch weiter zu irritieren.
Genauso muss der Mensch an seiner Balance arbeiten, um das Pferd nicht unnötig zu irritieren. Auf dem nachfolgenden Bild sieht man schön, wie ich gerade in Richtung Pferd kippe.
Ich freue mich jetzt schon darauf, was an Kommunikation mit ihm möglich sein wird, wenn sich die Balance verbessert hat und wir wieder „einfach so“ über unserer beider Bewegungen miteinander tanzen können. Bis es soweit ist, ist es erst einmal wichtiger, Gehen zu lernen, ohne umzufallen.
Viele Pferde haben damit Probleme, sich auszubalancieren. Die Arbeit in höheren Gangarten täuscht durch das höhere Bewegungsmoment, das in gewissem Maße auch stabilisierend wirkt, über die mangelnde Grundbalance hinweg. Nicht umsonst ist der Schritt bekannt als die „schwierigste“ Gangart. Jedoch wird sich die mangelnde Grundbalance auch immer in der weiteren Ausbildung als erschwerender Faktor bemerkbar machen. Die Arbeit an der natürlichen Schiefe ist ein lebenslanger Prozess. Für die Grundbalance ist es jedoch unerlässlich, den Focus auf die Kräftigung der gesamten Rumpfmuskulatur zu legen. Dies wird oft zugunsten der Hinterhandaktivität vernachlässigt.
Wenn es mir gelungen ist, Sie für diese Problematik etwas zu sensibilisieren, freue ich mich über Kommentare. Und vielleicht finden wir zu einer neuen Sichtweise über das, was das Pferd mir mitteilt, wenn es „gegen mich“ geht. Weil es vielleicht einfach gerade umfällt.
In diesem Sinne, frohes gemeinsames Gehen 🙂
Ihre Heike Uthmann
(1) aus „Sprachkurs Pferd“, Sharon Wilsie & Gretchen Vogel, S. 22